Tibet by pattison

Tibet by pattison

Autor:pattison
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: General Fiction
veröffentlicht: 2014-01-29T05:00:00+00:00


10

An der Kreuzung brachte Shan den Laster zum Stehen. Hier hatte Xie ihn am Morgen erwartet. In der Dämmerung hielt er nach Wachen des Direktors Ausschau. Xie musste damit rechnen, dass die Leute aus der Gegend sich in den Trümmern umsehen würden, sobald er den Ort verlassen hätte. Sie würden versuchen, Gebetssteine zu bergen. Selbst zerbrochene Gebetsmühlen galten als heilig.

Die Tibeter wussten, dass die Regierung gerne mit Baggern an die Orte ihrer Zerstörung zurückkehrte, um nichts als nackte, gesalzene Erde zurückzulassen, auf der nichts mehr wachsen würde. Das allerdings würde am Tag geschehen. Die Nacht gehörte in Tibet – von den größeren Städten abgesehen – den Tibetern. Einige Minuten lang suchte Shan nach Anzeichen, welche die Anwesenheit von Wächtern verraten würden, dann bog er ab.

Die verwitterten Klostergebäude waren zerstört worden. Lediglich ein Hufeisen aus drei massiven Steinmauern war übrig geblieben, deren rußgeschwärzte Wandgemälde jetzt schutzlos den Naturgewalten ausgesetzt waren. Alles andere – Steine, Balken, Putz, Stühle und Tische – war zermahlen und dem Erdboden gleichgemacht worden. Offenbar hatte man nicht nur den Bulldozer zum Einsatz gebracht, sondern auch diverse Vorschlaghämmer. Reste alter thangkas hingen zwischen den Steinen und flatterten im Wind. Von Tibetern keine Spur.

Kurz darauf fand Shan die Erklärung dafür, weshalb nirgends Tibeter zu sehen waren. Im Schatten der Bäume am anderen Ende des Klostergeländes parkte Xies Limousine.

Betäubt vom Ausmaß der Zerstörung, lief Shan ziellos in den Trümmern umher. Entfernt nahm er ein metallisches Grollen wahr, das Auf und Ab eines Motors. Eine Stelle weißgekalkter Steinreste markierte den Ort, an dem der alte chorten gestanden hatte. Vergeblich suchte Shan in den Trümmern nach der bronzenen oder hölzernen Schatulle, in der die Reliquien aufbewahrt wurden. Anschließend ging er dem Motorengeräusch nach, das von hinter den drei Mauern kam, die zu massiv gewesen waren, um sie einzureißen.

Der kleine Bulldozer hatte den Buddha ins Visier genommen, der auf die rückseitige Felswand gemalt worden war. Der Motor lief, doch das Führerhaus war leer. Immer wieder stolperte der Bulldozer einige Zentimeter vorwärts, stieß gegen den Fels, heulte auf, fiel zurück und begann von vorne. Begleitet von unguten Gefühlen sah sich Shan nach dem Fahrer um, ging auf die Maschine zu und wollte den Zündschlüssel drehen. Als er sich jedoch bis auf zwei Meter genähert hatte, blieb er abrupt stehen. Die Steuerungshebel waren mit khatas, weißen Gebetsschals, festgebunden worden.

Shan bemerkte einen Farbfleck neben dem Bulldozer, etwas Rötliches, Pelziges. Mit dem vagen Gefühl, dieses Etwas zu kennen, ging er vor zur Schaufel, begriff aber erst, was er vor sich hatte, als er das Blut und die Reste des teuren Mantels mit den Fingern hätte greifen können. Er stolperte, stützte sich an der Felswand ab und rang eine aufsteigende Übelkeit nieder. Eingeklemmt zwischen dem Fels und der Klinge des Bulldozers fanden sich weitere Überreste – genauer gesagt die Überreste von Direktor Xie des Büros für Religiöse Angelegenheiten.

Shan hätte nicht sagen können, wie lange er so dastand, abgestützt am Felsen und starr vor Entsetzen. Irgendwann schaltete er den Motor aus. Er war geistesgegenwärtig genug, dafür die Knöchel zu benutzen und keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.



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